Friedensnobelpreis 1977: amnesty international

Friedensnobelpreis 1977: amnesty international
Friedensnobelpreis 1977: amnesty international
 
Der Preis des Jahres 1977 würdigte die Organisation für ihre weltweite Unterstützung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen, vor allem von Gewissensgefangenen.
 
 
amnesty international (ai), gegründet in Luxemburg im Juli 1961 (bis 1962 unter dem Namen Appeal for Amnesty), Hilfsorganisation für politische Gefangene, 1963 Einrichtung des Internationalen Sekretariats (Sitz: London), 1972/1984 weltweite Kampagnen zur Abschaffung von Folter und Todesstrafe, 1974 Friedensnobelpreis an Séan MacBride, langjähriger Leiter der Organisation, 1977 Proklamation des »Jahres der Gewissensgefangenen.«
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Bekanntlich kann mitunter ein einziger Tropfen ein Fass zum Überlaufen bringen: Der britische Rechtsanwalt Peter Benenson hatte in verschiedenen Ländern, etwa in Ungarn, Spanien oder Südafrika, politische Gefangene verteidigt und dabei schon erfahren müssen, mit welch fadenscheinigen Begründungen Menschen zu langen Haftstrafen oder gar zum Tod verurteilt wurden. Doch das, was er im November 1960 in der Zeitung über zwei portugiesische Studenten las, erschütterte selbst ihn: Sie hatten lediglich mit ihren Gläsern auf die Freiheit angestoßen — ein Anlass für die Justiz des Salazarregimes, die beiden für sieben Jahre ins Gefängnis zu schicken.
 
Peter Benenson war entsetzt über die »Ekel erregende Hilflosigkeit«, mit der man den ständigen Menschenrechtsverletzungen in vielen Staaten der Erde zuschauen musste, und er beschloss, die Öffentlichkeit auf das Schicksal politischer Gefangener aufmerksam zu machen und die Freilassung der Inhaftierten zu fordern. Der Anwalt schrieb deshalb einen Zeitungsartikel, in dem er dazu aufrief, durch Publikationen und Proteste Druck auf die verantwortlichen Machthaber auszuüben und sie so zu einer Amnestie zu veranlassen.
 
Der Aufruf, der am 28. Mai 1961 im britischen »Observer« veröffentlicht wurde, hatte ein überwältigendes Echo. Innerhalb weniger Wochen meldeten sich über 1000 Mitstreiter, darunter auch prominente Menschenrechtler wie der US-Amerikaner Luis Kutner, Initiator der Gefangenenhilfsorganisation World Habeas Corpus. Bereits im Juli 1961 fand in Luxemburg die Gründungskonferenz von Appeal for Amnesty, der heutigen amnesty international, statt. In den ersten zwölf Monaten nach der Gründung entstanden sieben nationale Sektionen (etwa die deutsche). Die neue Organisation setzte sich in vier Ländern für politische Gefangene ein. Heute gibt es in 55 Staaten Sektionen von amnesty international, die mehr als eine Million Mitglieder und Förderer der Organisation kommen aus rund 140 Ländern. Durchschnittlich werden pro Jahr Menschenrechtsverletzungen in etwa 100 Ländern untersucht und in umfangreichen Jahres- und Länderberichten, in Pressemitteilungen und im »ai-Journal« dokumentiert.
 
 Nicht nur Hilfe für die vergessenen Gefangenen
 
Hauptanliegen von amnesty international, dessen Verfolgung der Organisation 1977 die Auszeichnung durch das Osloer Nobelpreiskomitee einbrachte, war und ist die Freilassung aller Gewissensgefangenen, also der Menschen, die aufgrund ihres Glaubens, ihrer politischen Überzeugung, ihrer ethnischen Abstammung, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Sprache oder ihrer nationalen oder sozialen Herkunft oft ohne ordentliches Gerichtsurteil inhaftiert worden sind. Wie viele solcher Gefangener derzeit in den Gefängnissen meist unter menschenunwürdigen Bedingungen einsitzen, ist unbekannt, es dürften mehrere hunderttausend in mindestens 60 Ländern sein.
 
Die brennende Kerze mit dem Kranz aus Stacheldraht, traditionelles Symbol von amnesty international, steht aber nicht nur für das Schicksal der politischen Gefangenen. Es soll auch andere Verletzungen fundamentaler Menschenrechte symbolisieren, etwa Folterungen, Mord oder das »Verschwindenlassen« im Auftrag des Staates, die von ordentlichen Gerichten ausgesprochene Todesstrafe und Gewalttaten oppositioneller Gruppen wie Geiselnahmen und Mord an Gefangenen, Unterdrückung von Minderheiten und willkürliche Abschiebung von Asylsuchenden, Missachtung der Rechte von Lesben und Schwulen. ..
 
Wie vielen Menschen amnesty international seit 1961 geholfen hat, weiß niemand genau. Die Dunkelziffer ist hier wohl ebenso hoch wie bei den Menschenrechtsverletzungen, denn die für die Verstöße verantwortlichen Machthaber werden beispielsweise wohl kaum die Aktivitäten der Organisation als Grund für die Freilassung politischer Gefangener nennen. Sie werden vielmehr humanitäre Gründe für die Amnestie anführen, um sich der Weltöffentlichkeit als wahre Menschenfreunde zu präsentieren. Von den namentlich bekannten Inhaftierten sind in den vergangenen Jahrzehnten schätzungsweise zwei Drittel freigekommen — ein großer Erfolg, den amnesty international wiederum nicht allzu sehr »an die große Glocke hängen« möchte, schließlich geht es der Hilfsorganisation um die Ergebnisse ihrer Arbeit und nicht darum, sich als Sieger darzustellen.
 
 Die Geheimnisse des Erfolgs
 
amnesty international kann seit rund 40 Jahren erfolgreich arbeiten, ist heute unter den weltweit mehr als 1000 nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen zweifellos die erfolgreichste. Dies ist wohl vor allem dadurch begründet, dass sich die Vereinigung strikt an ihre Grundsätze hält und im Lauf der Zeit mehrere Verfahren entwickelt hat, um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken und dann gezielt Druck auf die dafür Verantwortlichen auszuüben. Zu den bewährten Prinzipien gehören etwa Neutralität, Überparteilichkeit und Unabhängigkeit. amnesty international erhält kein Geld aus Staatskassen, sondern finanziert sich allein durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Bei der Betreuung von Gefangenen wird auch darauf geachtet, dass die Betreuer aus einem anderen Land kommen, um so die Neutralität zu wahren. Nach dem Grundsatz der Gewaltlosigkeit schließt amnesty international die Gefangenen von ihren Bemühungen um Freilassung aus, die selbst Gewalttaten begangen haben, sorgt aber dafür, dass sie einen fairen Prozess bekommen.
 
Mit einer Kampagne hat die Arbeit der Vereinigung 1961 begonnen, und weltweite Feldzüge gegen Menschenrechtsverletzungen oder andere Missstände werden bis heute durchgeführt — an der Wende zum 21. Jahrhundert beispielsweise gegen die Flut von Kleinwaffen und den Missbrauch von Kindern als Soldaten. Mehr im Verborgenen arbeiten die so genannten »Adoptionsgruppen« der nationalen Sektionen, die zumeist zwei Gefangene betreuen und die Entwicklung ihrer Fälle in Langzeitdossiers (action files) dokumentieren. Bei den urgent actions, im Allgemeinen in Form von Massenbriefaktionen, wird wiederum die internationale Öffentlichkeit mobilisiert und dazu aufgefordert, per Fax, Eilbrief oder E-Mail bei den verantwortlichen Stellen des betreffenden Staates die Respektierung der Menschenrechte zu fordern. Solche Eilaktionen werden insbesondere in den Fällen gestartet, in denen einem Gewissensgefangenen beispielsweise durch Folter oder Hinrichtung akut Gefahr droht oder rasches Handeln aus anderen Gründen notwendig ist — wie bei der zu lebenslanger Haft verurteilten birmanischen Bürgerrechtlerin Ma Khin Khin Leh, die an einer Lungenkrankheit leidet, bei der gefolterten Oppositionspolitikerin Tadigbe Traore aus Guinea, im Fall des in Honduras von einem Polizeibeamten erschossenen Jugendlichen Alexander Obando Reyes, bei dem die Behörden offenbar darauf warten, dass bald »Gras über die Sache gewachsen« ist und der Polizist nicht bestraft wird. ..
 
P. Göbel

Universal-Lexikon. 2012.

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